Die Techvilla am Zürichsee

Band 1: Happy Halloween

Zwischen Realität und Fiktion. Zwischen Schutz und Obsession. Immer dort, wo Licht auf Glas trifft.

Autorin: Anne-Katrin Michelmann

„Ich habe dich verzaubert und jetzt gehörst du mir.“

Hocus Pocus

Unter dem Schleier des Herbstes.

Der Zürichsee lag still, ein Spiegel aus schwarzem Glas. Nebel, der wie kalter Atem über das Wasser kroch, machte sich breit. Zwei Männer standen am oberen Weg unter einer alten Linde. Vor ihnen – die Villa. Es war dieser typische Bau, der gar nicht versucht, bescheiden zu wirken. Ein Würfel aus Beton mit zu viel Glas, der aussah, als wolle er sagen: Wir können uns alles leisten.

Der größere Mann grinste, verschränkte die Arme. „Das nennt man dann Understatement, oder?“ Der kleinere antwortete nicht. Sein Blick blieb an den Fenstern hängen, in denen sich das Licht des Sees brach. Er wusste nicht, weshalb, doch er hatte nicht das Gefühl, als würden sie das Haus betrachten. Es war eher, als betrachte das Haus sie. Ein Blick ohne Augen, kalt und unnachgiebig, der durch die Glasflächen drang wie ein Gedanke, den man nicht abschütteln kann.

Drinnen glomm gedämpftes Licht. Kein Mensch war sichtbar. Nur Designermöbel in Reih und Glied, als würden sie auf ein Magazinshooting warten. „Schau dir das an“, murmelte der Größere. „Alles gerade, alles perfekt. Nicht mal ’ne Gardine.“ Ein Windstoß zog durch die Linde, trug den Geruch von Holzrauch und Geld mit sich. „Ein Haus, das glaubt, es ist besser als du“, sagte er leise.
„Perfekt“, antwortete der andere. „Dann lassen wir’s mal auf den Boden der Tatsachen zurückkommen. In zwei Wochen ist er weg. New York. Symposium. Hat er auf LinkedIn gepostet.“

Im Rhythmus der Routine.

Sie kamen zurück. Nicht jeden Tag. Das wäre zu auffällig gewesen. Aber regelmäßig genug, dass sich ihre Körper an die Strecke gewöhnten.
Sie kannten jeden Winkel des Seewegs, jede Hecke, die Deckung bot, jedes Haus mit Licht, das zu früh oder zu spät erlosch.

Einmal liefen sie als Jogger vorbei, mit Kopfhörern ohne Musik.
Einmal als Spaziergänger mit einem Hund, der nicht ihrer war.
Einmal in einem Lieferwagen mit einem magnetischen Logo, das sie am Abend wieder abziehen würden.

Immer dieselbe Privatstraße, immer dieselbe Villa.

Ihre Welt war Routine im Schatten. Ein stilles Einüben fremder Gewohnheiten, um das Leben ihrer Opfer so präzise zu kennen, als wäre es ihr eigenes.

Wie lange braucht sie, um vom Yoga zurückzukommen?
Wann trifft sie sich mit ihren Freundinnen zum Shoppen?
Wann bleibt das Haus leer?

Sie wussten genau, wann der Mann in zwei Wochen für eine Konferenz nach New York fliegen würde.
Die komplette Timeline des Symposiums stand für jedermann im Internet:
„Drei Tage Symposium, ein paar Meetings in Midtown“, hatte er auf LinkedIn geschrieben.

Dreihundert Likes.
Für die beiden Männer war das kein Networking. Es war ein Countdown.

„Selfcare -Sunday“

Von ihr wussten sie mehr, als ihnen lieb war. Sie gab alles preis, ohne es zu merken. Ein perfekter Alltag, in perfekt gefiltertem Licht. Die Kaffeetasse auf der Terrasse, immer zur selben Uhrzeit. 

Ein Glas Wein beim Sonnenuntergang unten am See. „Selfcare-Sunday“, schrieb sie dazu. Manchmal ein Zitat über Vertrauen, manchmal ein Selfie im Spiegel, auf dem sich im Hintergrund das Innere des Hauses spiegelte: die offenen Treppen, der Eingangsbereich, die schicke Handtasche auf dem Konsolentisch, stilvoll platziert, die mehr kostete als ein Kleinwagen.

Sie hinterließ digitale Spuren, so präzise wie Fußabdrücke im frischen Schnee. Sie musste nichts sagen. Die Fotos erzählten alles: wie teuer ihr Leben war und wie selbstverständlich sie sich sicher fühlte. 

Für die Männer war sie nicht einfach eine Frau. Sie war ein Plan. Ein Puzzle, das sich mit jedem Post vervollständigte. 

Etwas, das man beobachten, berechnen und schließlich ausnutzen konnte.

Allein.

Sie liebte den Herbst. Sie liebte den See in der Abenddämmerung mit den rot-gelb gefärbten Blättern. Es hatte seine ganz eigene Schönheit, mit der all die Destinationen, die sie schon bereist hatte, nicht mithalten konnten.
Aber sie hasste diese Stille, wenn ihr Mann weg war.

Er war wieder auf Reisen, diesmal für drei Tage New York. Eigentlich fünf, wenn man Hin- und Rückflug mitzählte.
Er schrieb aus Hotelzimmern, schickte Selfies mit müden Augen und versprach, ihr etwas mitzubringen.
Sie hatte den Satz gelesen und kurz gelächelt. Bei ihrem Glück verwechselte er Tiffany mit einem Apple Store. Das wäre so typisch für ihren Mann.

Damals, mitten im Hochsommer, hatte er sie ans Fenster geführt. Die Sonne glitzerte über dem Wasser, und zwei Techniker standen im Garten mit Kabelrollen und Werkzeugkoffern.
„Was ist das?“, hatte sie gefragt.
„Dein Geschenk“, hatte er gesagt – mit dieser stolzen Stimme, die sie an ihm liebte.
„Ein … Kabel?“

Er hatte gelacht, wie jemand, der gleich das Rätsel seines Lebens gelöst hat.
„Nicht ein Kabel, Liebes. Intelligente Technik! Das Beste, was es gibt!“

Sie hatte genickt, höflich.
Juchu. Technik. Etwas, das sich jede Frau zu ihrem Geburtstag wünscht.

Er war begeistert, redete von Effizienz, Sicherheit und Zukunft.

Bei 3 von 10 Einbrüchen ist jemand zu Hause.

Deaktiverte Alarmanlagen sind einer der Gründe.

Halloween.

Die Nacht war laut und lebendig. Kinder in Kostümen liefen schreiend durch die Straßen, Taschen voller Zucker, Laternen aus Plastik.
Lachen, Rufen, Türen, die sich öffneten und schlossen. Es war der perfekte Lärm, um unbemerkt zu sein.

Der See war nur ein dunkler Streifen, und der Wind trug das Lachen der Kinder mit sich.
Zwischen ihnen mischten sich zwei Gestalten.

„Heute“, sagte der Größere leise. „Heute bemerkt uns niemand.“

„Trick or treat“, antwortete der Kleinere und grinste schief.
Sie hatten sich vorbereitet – wochenlang.
Sie kannten jedes Fenster, jede Kamera, jeden Winkel, der unbeleuchtet blieb.
Sie waren sicher, die blinden Flecken zu kennen.
Sie hatten sich an den Rhythmus des Hauses gewöhnt, wie an den Herzschlag eines Opfers.

Doch er konnte nicht anders. Schon beim ersten Schritt durch das geöffnete Seitentor beschlich ihn wieder dieses Gefühl, ein leises, drückendes Etwas.
Vor ihnen stand die Villa. Ihre Glasfront war schwarz und glänzend wie die Iris eines Auges.
Sie blickte ihn unnachgiebig an. Sein Spiegelbild war darin gefangen – winzig und verzerrt, halb verschluckt von der Dunkelheit hinter dem Glas.

„Ich schwör dir, das Ding lebt“, flüsterte er.
Der Große lachte. „Ja, klar. Und gleich ruft’s ‚Buh!‘“

Algorithmus des Begehrens.

Sie hatten viele Häuser gesehen.
Zu viele.
Aber dieses hier war anders. Und sie auch.

Sie wussten, dass sie kein Partymensch war. Dafür war sie zu diszipliniert, zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Sie postete Smoothie-Bowls, Spaziergänge am See, Sonnenuntergänge mit Zitaten über Achtsamkeit.
Keine Clubs, keine Gesellschaft. Nur sie, ihr Mann, das Haus – und ein öffentlich geteilter Reichtum.

Der Kleine kannte jedes dieser Bilder.
Er hatte sie gespeichert, zuerst aus Neugier, dann aus einem Gefühl, das er nicht mehr benennen konnte.
Sie war zierlich, fast feenhaft. Leicht zu überwältigen.

Er ertappte sich dabei, zu warten.
Darauf, dass sie wieder etwas postete.
Darauf, dass das Licht in der Villa in genau jenem goldenen Winkel aufflammte, den er inzwischen liebte und hasste zugleich.

Er sagte sich, es sei nur Vorbereitung.

Der Große bemerkte die Veränderung.
„Du bist zu tief drin, Kleiner.“
„Man muss sie verstehen, um Fehler zu sehen.“

Er sah hinüber zur Villa.
Es war kein Zufall, dass sie Halloween wählten. Zur Dinner Time.
Es war die Zeit, in der sie die Alarmanlage noch nicht aktiv hatte.
Das Haus würde still sein, und die, die darin wohnte, glaubte, sicher zu sein.

Fiktionen im Muster der Realität

Sie hockte auf dem Sofa.
Im Fernsehen lief eine dieser alten Halloween-Geschichten aus den Neunzigern.
Sie hatte sie extra ausgesucht, weil sie es mochte, wie der Plot langsam atmete, wie die Spannung sich wie warmer Dampf ausbreitete.

Heute Abend sollte alles schön unaufgeregt sein: ein Film, ein paar Kerzen, ein Glas Wein und das beruhigende Wissen, dass ihr Mann in New York gerade sehr erfolgreiche Meetings hatte.

Sie hatte die Klingel am Tor absichtlich stumm geschaltet.
Kinder würden kommen, das wusste sie, und sie mochte es nicht, vom Läuten aus dem Film gerissen zu werden.

Ein Schrei im Film hallte kurz durch den Raum, dann Stille.

Sie lachte leise.
„So ein Unsinn“, murmelte sie und nahm das Handy zur Hand, um sich abzulenken.

Sie scrollte.
Perfekt arrangierte Bilder zogen an ihr vorbei.
Dann blieb sie an ihrem eigenen Profil hängen.
„Ich habe dich verzaubert, und jetzt gehörst du mir.“ hatte sie heute gepostet.
Ihr Mann hatte darunter kommentiert: „Und du mir.“

Ein dumpfer Laut ließ sie aufsehen.
Nur der Wind, sagte sie sich.

In der Spiegelung der Glasfront sah sie ihr eigenes Gesicht –
und dahinter, für einen flüchtigen Moment, glaubte sie eine Bewegung zu erkennen.

„Reiß dich zusammen“, sagte sie leise und griff nach dem Weinglas.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, war nicht neu.

Panik.

Das Handy vibrierte.
Sie zuckte zusammen, fast erschrocken über das Geräusch in der Stille.

„Guten Abend, hier ist Eva vom Remote-Schutzdienst“, sagte eine Stimme – ruhig, professionell, freundlich.

Einen Herzschlag lang verstand sie nicht, was das heißen sollte.
„Wie bitte?“

„Zwei Personen befinden sich in Ihrem Garten. Sie werden beobachtet.“

Ein Zittern lief ihr über die Schultern.
In ihrem Kopf formten sich die letzten Wochen neu.
Alles ergab plötzlich Sinn – und das machte es nur schlimmer.

Die Luft fühlte sich plötzlich schwer an, zu warm.
Dann hörte sie ein Klicken.
Nicht aus dem Film.
Aus dem Flur.

„Sind… sind die Türen verriegelt?“

„Ja“, sagte Eva. „Wir haben soeben alle Zugänge gesperrt. Niemand kann das Haus betreten.“

Sie stand langsam auf.
Ihre Knie fühlten sich fremd an, als gehörten sie jemand anderem.

„Gehen Sie bitte langsam zum Panikraum. Sie wissen, wo der ist?“

Sie nickte, obwohl die andere sie nicht sehen konnte.
Jeder Schritt klang zu laut, zu real.

Im Fernseher schrie jemand.
Sie drückte auf die Fernbedienung.
Der Ton verstummte – und ihre Angst kroch in jede Zelle, lautlos und schrill zugleich.

Entdeckt.

Sein Blick klebte an der Glasfront.
Hinter den Scheiben sah er sie – aufrecht, bleich, das Handy in der Hand.
Das Licht des Fernsehers flackerte über ihr Gesicht und ließ es für einen Moment geisterhaft wirken.
Sie drehte den Kopf, nur ein Stück, und er hatte das Gefühl, sie sah direkt durch ihn hindurch.

Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter.
Für einen Sekundenbruchteil erkannte er wieder sein eigenes Spiegelbild – blass, verzerrt, ein Fremder im Glas.
Dann senkten sich langsam die Storen, gleichmäßig, lautlos, wie ein Lid, das sich über ein Auge schließt.
Sein Abbild verschwand – verschluckt von der Wand aus Metall.

Er hatte es gewusst.
Die Villa beobachtete ihn.
Nicht wie ein Haus.
Wie etwas, das begriffen hatte, was er wollte.

„Kid, los jetzt!“, flüsterte der Große.
Ein grelles Licht brach durch den Nebel.
Sirenen, erst fern, dann nah.
Der Große riss ihn am Arm.
„Polizei! Los, verdammt!“

Sie rannten.
Alles, was blieb, war das Bild –
sie im Licht, das Haus in Dunkelheit,
und er dazwischen, irgendwo verloren.

Am Rand des Waldes blieb er stehen, keuchend.
Er drehte sich noch einmal um. Blaue und rote Reflexe brachen sich in den Glasfronten, tanzten über die Fassade und zogen flackernde Linien über Beton und Stahl.

Ein kaum merkliches Lächeln glitt über sein Gesicht.
„Du hast mich verzaubert… und jetzt gehör’ ich dir.“

Der Morgen danach.

Die Sonne hing tief über dem See, müde und blass, als wollte sie den vergangenen Abend nicht noch einmal sehen.
Das Wasser glitzerte träge, als wüsste es, dass sich unter seiner Oberfläche etwas verändert hatte – etwas Unsichtbares, das blieb.

Sie saß im Garten bei ihrem letzten Glas Wein.
Wenn die Sonne ganz aufgegangen war, wollte sie endlich versuchen zu schlafen.

Das Handy vibrierte.
New York.

„Hey, mein Herz“, sagte er – warm, vertraut, übermüdet.
Im Hintergrund das metallische Klackern von Rollkoffern.

„Ich hab alles gehört. Geht’s dir gut?“

Sie lächelte schwach.
„Ja. Es ist… alles gut.“

Ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren, wie ein Satz, den jemand anderes sprach.

„Also hat sich mein Geschenk doch gelohnt?“

Ein Teil von ihr wusste: Ja, das System hatte funktioniert.
Aber ein anderer Teil – leiser, tiefer – wusste, dass sie seither nicht mehr allein war.
Dass jemand dort draußen ihr Leben gestreift hatte,
wie ein Schatten, der bleibt, obwohl das Licht längst gewechselt hat.

Und dass ihr Alltag nun auch in einem anderen Kopf weiterging.
In seinem.

Nachwort

Mit dieser Geschichte beginnt unsere fortlaufende Reihe rund um die Techvilla am Zürichsee,
eine moderne Romantic Crime & Tech Thriller-Serie. Jede Episode erscheint zu einer besonderen Jahreszeit.
Jede ist eine Geschichte über das Sehen und das Gesehenwerden,
über die feine Grenze zwischen Realität und Fiktion, zwischen Schutz und Überwachung. Wir wollen Technologie nicht nur erklären, sondern erlebbar machen –
mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Denn künstliche Intelligenz besteht nicht nur aus Daten und Algorithmen,
sondern sie spiegelt wider,
wer wir sind
und wie wir leben.